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Die Blätter und der Stacheldraht, Das Meer und die Augen and Der Vogel

Die Blätter und der Stacheldraht, Das Meer und die Augen and Der Vogel

Written in German by Hussein Mohammadi

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Die Blätter und der Stacheldraht 

In der Türkei, September 2012

Es hat langsam aufgehört zu regnen. Ich stehe auf dem Hof des Camps, in das wir nach unserer Verhaftung gebracht worden sind, und blicke hinüber auf die andere Seite des Stacheldrahts. Hier und dort stehen Bäume, hier und dort sind Blätter über den Boden verteilt. Blätter, die der gleiche Regen wusch, Blätter, die aufeinander, nebeneinander, sogar hier direkt neben meinen Füssen auf dem Boden liegen. Den Blättern ist es egal, auf welcher Seite sie liegenbleiben, nur für mich ist es wichtig. Ich will nicht sechs Monate an einem Ort leben, der einem Gefängnis gleicht.

Wir waren gerade angekommen. Auf dem Stuhl neben dem Fenster sass ein alter Mann und trank seinen Tee. Er erzählte uns von dem Leben hier, von den anderen Flüchtlingen, die wie wir auf dem Meer verhaftet worden waren. Er sei schon seit sechs Monaten hier. (Jetzt verhielt er sich wie ein alter Hase.)

Ich schaute mir die anderen an und sagte zu mir selbst: «Sechs Monate?! Ich muss es wie die Blätter machen, es soll mir egal sein, wie und wo ich bin.»

***

Das Meer und die Augen

Zwischen Türkei und Griechenland, November 2012

Anfangs sassen wir mit zwei Schleppern in einem Schlauchboot. Doch dann übergaben sie einfach einem der Passagiere die Führung, schwammen zu einer kleinen Insel und liessen sich von dort abholen. Eine halbe Stunde später zog plötzlich ein Sturm auf und die Situation wurde bedrohlich. Das Boot begann stark zu schwanken. Alle hatten Angst. Ich sass auf dem Rand und versuchte mit aller Kraft das an der Bootskante befestigte Seil festzuhalten. Ich sah, wie die Wellen schrecklich um uns herumtanzten und immer höher wurden. Bei jeder grossen Welle glaubte ich, sie würde uns verschlucken. Sehr schön! Ein Wunder der Natur!

Die meisten Passagiere sassen in der Mitte des Bootes und beteten. Ich betete auch. Drei Mal war ich schon auf dem Meer verhaftet worden, jetzt wollte ich einfach nur noch die Insel erreichen und endlich ankommen. Vielleicht hatte ich auch deswegen keine Angst, vielleicht schaute ich deswegen dem Tanzen der Wellen ohne Angst zu, obwohl es mir Angst machen sollte. Ich hatte keine Angst. Als wir der Insel schon nah waren, entdeckte ich ein Mädchen, das neben ihrer Mutter sass und mich anstarrte. Ich sah ihr Gesicht und ihre Augen. Ich lächelte. Sie lächelte zurück. Ihre Augen glänzten. Da bekam ich plötzlich doch noch Angst. Angst davor, dass ihre Augen morgen schon nicht mehr glänzen würden.

***

Der Vogel

Griechenland, November 2012

Nach dieser hektischen Nacht kamen wir endlich auf der griechischen Insel an. Wir machten ein Feuer gegen die Kälte und trockneten unsere nasse Kleidung. Die meisten Passagiere verschwanden sofort, nachdem wir aus dem Schlauchboot ausgestiegen waren. Nur mein Freund und ich, eine Familie und ein paar weitere Männer und Frauen blieben am Feuer sitzen. Um uns herum lagen kleine und grosse Steine, selbst die Disteln, die überall wuchsen, hatte ich in der Dunkelheit für Steine gehalten. Als wir angekommen waren und einen kleinen Hang hochklettern mussten, wollte ich mich an ihnen festhalten, aber sie zeigten mir mit ihren Dornen, dass es hier keinen Schutz gab.

Bei Sonnenaufgang lief mein Freund barfuss zum Strand zurück, um seine Schuhe zu suchen, die er beim Aussteigen verloren hatte. Als er sie nicht wiederfand, baute er sich Sandalen aus herumliegendem Holz. Alle waren bereit weiterzugehen. Doch schon nach einer Viertelstunde Fussweg ahnten wir, dass es schwierig werden würde, das Gebiet zu verlassen, auf dem wir gelandet waren. Die Bäume standen dicht an dicht. Ihre Äste versperrten uns den Weg wie Spinnweben.

Plötzlich sah ich einen Vogel. Frei flog er am Himmel. Neidisch schaute ich zu ihm hoch und sagte zu mir selbst: «Du bist frei, ich bin hier im Dilemma. Doch es gibt immer einen Weg oder eine Lösung. Ich muss nur meine Flügel ausbreiten.»

Published March 18, 2025
© Hussein Mohammadi


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